Katja Henkel

im Gespräch über Freiheit, Barfüßigkeit und die plötzliche Zerstörung der Idylle

Photo © Heike Steinweg

Frau Henkel, Ihr letzter Roman Die Anderen spielt an einem indischen Strand, an dem einige deutsche Aussteiger in einer Art Enklave ihr Glück suchen. Haben Sie den Text auch an Ort und Stelle geschrieben?

Überwiegend. Ich war drei Mal mehrere Monate in Goa, habe also dort geschrieben, aber auch in Hamburg. An den Aussteigern hat mich interessiert, wie gerne sie in der Fremde Gruppen bilden und sich ganz eigene Regeln und Grenzen erschaffen. In fast jeder Strandbar wird eine andere Sprache gesprochen, in der einen treffen sich überwiegend Deutsche, in der nächsten Italiener und in der übernächsten Engländer. Das geschieht ganz automatisch, die Sprache, wenn man sie in einem fremden Land fast verliert, verbindet noch mehr als man glaubt.

Und die Atmosphäre des Ortes hat Sie zum Schreiben der Geschichte inspiriert?

Ich hatte die Gelegenheit, in einem solchen Strandkosmos kleinere und größere Tragödien aus der Distanz zu beobachten. Extreme Temperaturen, hohe Luftfeuchtigkeit, eigenartige Gerüche und Geräusche setzen offenbar andere Kräfte frei, Unruhe, Unsicherheiten, fiebrige Zustände. Ich schreibe über erschütterte Figuren, und meine Geschichte ist fiktiv, aber ganz und gar wahrscheinlich.

Haben Sie befürchtet, ins Klischeehafte zu rutschen?

Darüber habe ich mir keine Gedanken gemacht, mit solchen Vorstellungen schreibe ich nicht. Meine Protagonistin Romy hat einen ureigenen Blick auf dieses Leben.

Was macht den Strand von Goa zu einem besonderen Ort?

Ein besonderer Ort ist Goa historisch gesehen aus mancherlei Gründen, aber nicht zuletzt hat auch Bhagwan, bzw. Osho, eine Rolle gespielt. Viele seiner Anhänger kamen aus Poona auf der Suche nach schönen Stränden nach Goa, und ein paar Versprengte sind noch immer dort, wodurch eine außergewöhnliche Atmosphäre entsteht. Davon abgesehen, dass es einfach toll ist, den ganzen Tag barfuß in alten T-Shirts zu verbringen. Nun ist Goa nicht Indien, eher Indien für Anfänger, und Romy bewegt sich nur auf den wenigen Metern zwischen Hütten, Strand und den Strandbars, lebt also in einem äußerst beschränkten Raum. In diesem Raum versucht sie, ihre Innenwelt mit der Außenwelt abzustimmen, die Grenze zwischen ihrem Ich und den Anderen zu übertreten, ein sinnloser Versuch. Erst zum Schluss wagt sie sich hinaus, erlebt eine traumhaft unwirkliche Bahnreise. Ein winziges Stück Freiheit.

Sie beschreiben aber auch, wie die kleinen Gruppen einen Anführer haben und gewisse Regeln aufstellen und akzeptieren.

Ja, mit wirklicher Freiheit hat dieses Leben nicht viel zu tun. Regeln werden aufgestellt, und in meinem Roman kippen sie schnell ins Esoterische. Alles, was ich über Esoterik weiß, habe ich zum ersten Mal in Goa gesehen. Das kommt vielleicht daher, dass die Sehnsucht, irgendwo mehr glücklich zu sein als zu Hause, an einem solchen Ort besonders spürbar ist. Dabei wissen wir, dass wir so etwas wie Glück höchstens in uns selbst finden. Und dass wir, egal wo, alles finden können, was wir suchen, auch in Jöhlingen beispielsweise. Das Schwere ist lediglich, mit Geduld und viel Ruhe in sich hineinzuschauen und zu sehen, welche Reisen möglich sind und welche Landschaften sich auftun.

Aber Sie reisen trotzdem gerne physisch.

Reisen ist eine außerordentliche Mischung zwischen Arbeit und Müßiggang. Man muss auf Reisen viel tun, Abschied nehmen, aufbrechen, sich Neuem aussetzen. Es gibt keine Routine und jede Menge Situationen, die man im Alltag nicht erlebt, Reize, Begegnungen, Träume und auch mal Alpträume. Aber zugleich fällt – zumindest meistens – das Geldverdienen weg.

In den Szenen der rituellen Sonnenauf- und Untergängen am Strand von Goa beschreiben Sie das Meer als Quelle der Kraft und der Hoffnung. Das Bild ändert sich schlagartig, als ein einheimischer Junge ertrinkt.

Diese Szene habe ich selbst erlebt. Der Tod des Jungen kam völlig unvermutet, es gab keine Möglichkeit, sich darauf vorzubereiten. Meine Protagonisten müssen damit leben, dass die Idylle von einer Sekunde auf die andere zerstört werden kann. Ähnlich erging es mir in New York an dem wunderbar strahlend blauen Herbstmorgen des 11. September 2001.

Ilja Trojanow sagt, dass 99 Prozent aller Reisenden (bezogen auf Indien) getrost zu hause bleiben können, denn sie sehen sowieso nur, was sie schon kennen. Teilen Sie seine Meinung?

Nein. Ich sehe genau das Gegenteil. Erstens ist Reisen eine sinnliche, eine leibliche Erfahrung, die sich nicht ersetzen lässt. Und oftmals kann die Fantasie nicht mit der Realität mithalten. Aber genauso oft kann die Realität nicht mit der aus Reiseführern angelesenen Vorstellung mithalten. Deshalb stelle ich das Ereignis immer über das Lesen und auch über das Schreiben.

In Ihrem Buch LaVons Lied spielt New York eine bedeutende Rolle.

Die Geschichte handelt vom Jazz - und New York war in den 50er Jahren der Schmelztiegel für Jazz. Ohne New York würde die Geschichte nicht funktionieren.

Was ist es denn wohl, was uns immer wieder neugierig auf fremde Welten macht?

Ich glaube, es erfreut den Menschen nichts mehr, als von sich selbst Abstand zu nehmen. Aus sich selbst heraus zu treten und wenigstens für einen Moment verschwunden zu sein: an fremden Orten oder in anderen Zeiten. Das eigene Ich abzuschalten, tut gut.

Bevorzugen Sie generell fremde Plätze als Handlungsorte Ihrer Romane?

Nein, der Roman an dem ich momentan arbeite, spielt in Hamburg, meinem Wohnort. Ich fand es spannend, diesmal meine Protagonisten nicht an fremde Orte zu schicken. Zwar befinden auch sie sich auf der Flucht, aber ich gönne ihnen keine fremde, neue Umgebung, wo sie ihre Dramen inszenieren können. Das hat Spaß gemacht und war eine Herausforderung, weil meine ureigene Sehnsucht einfach nach wie vor in der Fremde liegt. Ich mag ja nicht einmal daheim schreiben, sondern gehe dazu in Cafés.

Interview © Jens Nommel 04/2009

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»Man vertraut einer Landschaft wie einem Freund.«
Thomas Hettche

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