Norbert Gstrein

im Gespräch über Glaubwürdigkeit, verbrauchte Begriffe und chinesische Millionenstädte

© Peter Andreas Hassiepen

Herr Gstrein, haben Sie eine Sehnsuchtslandschaft?

Das kann ich nicht sagen, aber ich kann sagen, wo ich demnächst hin möchte: in den amerikanischen Südwesten, nach New Mexico. Fragen Sie mich nur nicht, warum.

Hat ein Buch bei Ihnen einen besonderen Eindruck hinterlassen im Hinblick auf die Imagination von fremden Orten?

Natürlich, und nicht nur eines. Das ist immer wieder geschehen. Bei den frühen, zum Teil autobiographischen Büchern von Mario Vargas Llosa zum Beispiel. Da hatte ich beim Lesen den Wunsch, sofort nach Lima zu fahren – obwohl ich natürlich längst dort war, zumindest in dem Lima aus seinen Romanen.

In Ihren letzten Romanen Die englischen Jahre, Das Handwerk des Tötens und Die Winter im Süden gibt es eine Vielzahl von Schauplätzen: London, die Isle of Man, Wien, Hamburg, das ehemalige Jugoslawien, Buenos Aires. Welche Rolle spielen für Sie Recherchen und die Beschreibung von realen Orten?

Eine beträchtliche. Die Frage ist, wie man eine Wirklichkeit erschafft, die mehr als nur ein Papierleben hat, und eine Möglichkeit ist, von der bestehenden Wirklichkeit auszugehen. Dann müssen die nachprüfbaren Fakten natürlich stimmen. Es schadet der Glaubwürdigkeit eines Erzählers auch auf anderen Ebenen als der nur faktischen, wenn ein Buch schlecht recherchiert ist.

Wie gehen Sie beim Recherchieren vor?

Zuerst systematisch, dann unsystematisch. Wenn ich alles gelesen habe, was ich zu einem Thema glaube lesen zu müssen, lasse ich mich treiben. Ich nehme mir möglichst viel Zeit – und möglichst wenig vor – und suche die Orte auf, an denen meine Figuren sich aufhalten könnten. Dabei ergeben sich immer Beobachtungen, die man in keinen Büchern finden kann.

Während Sie sich in Ihren ersten Büchern mit Ihrer Tiroler Heimat beschäftigt haben, scheint das Exil das prägende Thema Ihrer späteren Romane zu sein. Kann man sagen, dass die Spannung ihres Werks unter anderem aus der Spannung zwischen diesen beiden Polen kommt, zwischen Exil und Heimat?

Vielleicht kann man das, aber die Begriffe sind längst verbraucht. Die einen nisten sich da ein, die anderen dort, und wenn man nicht achtgibt, verschwimmen die Unterschiede und man hält das Exil für die Heimat. Das wäre allerdings fatal.

Was bestimmt für Sie die Fremde in der Ferne?

Ein Schwindel.

Was für ein Schwindel?

Der Schwindel etwa beim Gedanken, dass es chinesische Millionenstädte gibt, von denen man kaum die Namen kennt, und man sich immer wieder erst vergegenwärtigen muss, was eine Million bedeutet: eine Million mal eins - und eins steht für ein Individuum.

Interview © Jens Nommel 01/2009

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